Inklusion praktisch — erste Hürden genommen

Vor zwei Jahren, als unser Sohn Daniel mit Down-Syndrom zum ersten Mal zur schulärztlichen Untersuchung eingeladen wurde, war uns Eltern bereits bewusst, dass die Wahl einer inklusiven Schule für unseren Sohn nicht gerade ein Kinderspiel wird. Wir wünschten uns für unseren Sohn, dass er unkompliziert mit Gleichaltrigen spielen und lernen darf, wie das bislang bei seinem Tagesvater und in seiner Kita auch möglich war.

Wir wohnen in Potsdam-Mittelmark, die Wohnort-Grundschule in Bergholz-Rehbrücke ist eine der Schulen, die am Pilotprojekt “ Inklusive Grundschule“ teilnimmt. Das, was wir über das Pilot-Projekt gehört hatten, klang positiv. Dennoch waren wir Eltern eher skeptisch, ob eine Schule, die noch keine Erfahrung hat mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung, für unseren Sohn der richtige Ort sein würde. Wir hatten die Hoffnung, neben einer grudsätzlichen Bereitschaft auch auf Erfahrung setzen zu können und suchten also weiter nach einer Schule für Daniel.

Wir sahen uns um, besuchten Tage der offenen Türen an verschiedenen Grundschulen. Viele Schulen (besonders die in freier Trägerschaft) machten einen sympathischen, offenen und herzlichen Eindruck. Wir hatten häufig das Gefühl: „hier ist unser Sohn willkommen“. So hatten wir nach vielen Gesprächen mit SchuldirektorInnen und IntegrationspädagogInnen den Eindruck, dass Daniel an einer Schule, die sich dazu ausdrücklich bekennt, dass alle Menschen unterschiedlich sind und jede/jeder anders lernt, einen Schulplatz bekommen wird. Wir waren allerdings wie vom Donner gerührt, als und einige wenige Monate vor der bevorstehenden Einschulung auch noch die letzte der von uns favorisierten Schulen absagte.

Am Ende war von einer „Schulwahl“ keine Rede mehr; wenn inklusive Beschulung, dann in Bergholz-Rehbrücke an der Grundschule vor Ort.

Es arbeiten an der Schule zwei Integrationspädagoginnen, die zum festen Personal der Schule gehören. Glücklicherweise haben uns diese Integrationspädagoginnen viel Mut gemacht und vermittelt, dass sie sich Daniel an der Schule vorstellen können. Sie strahlten für uns das aus, was wir uns so gewünscht hatten: Daniel ist willkommen nicht mehr und nicht weniger als alle anderen Erstklässler auch!

So sollte es dann also sein: Bei der zweiten schulärztlichen Untersuchung wurde Daniel für schultauglich befunden und wir waren mächtig stolz und nervös, wie das denn mit Daniel und den Regeln an einer „normalen“ Schule klappen könnte.

Ohne dass wir es vorher geahnt hätten, wurde dann aber ein ganz anderes Problem offensichtlich, das die Idee der inklusiven Beschulung zunichte zu machen schien: Die Nachmittagsbetreuung! Damit hatten wir nicht gerechnet: Die Gemeinde lehnte es ab, mit uns für Daniel einen Hortvertrag abzuschließen.

Wie sollte das funktionieren? Die Schule endet für die Erstklässler um 11.20 Uhr. Danach gibt es für alle Kinder im Ort den Hort, nicht aber für Daniel. Welche Möglichkeiten gibt es für uns Eltern, beide berufstätig, damit umzugehen? Es gab zunächst keinerlei Betreuungsalternativen.

Wir hätten, um einen Hortplatz zu bekommen, eine zusätzliche Nachmittags-Assistenz beantragen können, diese jedoch zu einem Löwenanteil selbst finanzieren müssen, was unseren finanziellen Rahmen gesprengt hätte. Aber: Ohne Assistenz kein Hortplatz!

Da standen wir nun, kurz vor der Einschulung, immer noch ohne Zusage für eine Nachmittagsbetreuung, und schrieben Briefe, Mails, Petitionen … Wir wandten uns auch an die Presse, gaben Interviews und schrieben Leserbriefe.

Unzählige Stunden verbrachten wir in Vorzimmern und Beratungsräumen von Verantwortlichen in den Behörden, von PolitikerInnen und Behindertenbeauftragten. Wir holten uns bei verschiedenen Institutionen und AnwältInnen Rechtsberatung und mussten feststellen, dass wir ohne möglicherweise langwierige gerichtliche Verfahren keine Chance haben würden, es sei denn, es würde sich zeitnah auf politischer Ebene etwas verändern. Wir sahen schwarz und immer schwärzer, wie wir mit der Situation nach der Einschulung umgehen sollten. Es war zum Heulen: Alle angesprochenen PolitikerInnen auf Gemeinde-, Kreis- und Landesebene waren sehr freundlich und konnten unser Problem verstehen, alle vermittelten uns, dass hier „geholfen“ werden müsse, aber niemand war bereit, die Verantwortung dafür zu übernehmen.

Während unserer Recherchen erkannten wir, dass es auch anderen Eltern in Brandenburg zeitgleich ähnlich erging. Auch andere hatten schon Klage eingereicht. Der Austausch mit ihnen war wichtig und hilfreich, doch wir vermissten sehr eine professionelle Unterstützung zur Bündelung der Elternerfahrungen mit den Rahmenbedingungen des schulischen Inklusionspilotprojektes. Wir hatten trotz der parallelen „Fälle“ doch das Gefühl, vereinzelt und damit Einzelkämpfer zu sein.

Immerhin gab es dann einen ersten, wenn auch noch schwachen, Lichtblick. Das Jugendamt signalisierte, dass es eine Not- und Einzelfalllösung für uns geben könnte: Daniel sollte ein Hortbesuch dadurch ermöglicht werden, dass er eine Tagesmutter bekommt, mit der er zusammen als Gast im Hort verweilen und dann als ein „Als-Ob-Hortkind“ die Angebote des Hortes nutzen darf, dank einer Kooperationsvereinbarung zwischen der Gemeinde und dem Landkreis.

Dabei würde Daniel immer abhängig von dem Engagement und der Präsenz seiner Tagespflegeperson sein. Nur sie ist für ihn verantwortlich. Auch eine Vertretungsregelung (z.B. im Krankheitsfall) schien kaum möglich. Sollte so „Inklusion“ aussehen?

Es musste nun eine geeignete Person gefunden werden, die in dieser besonderen Konstellation den Tagespflege-Job übernehmen wollte und konnte.

So kam es also zu einer weiteren großen Baustelle, auf der wir mit Aushängen, Anzeigen, Rundmails zu wirbeln begannen – und das gleichzeitig mit unseren Bemühungen, auch politisch und juristisch etwas voranzubringen.

Doch leider kam es trotz einiger motivierter InteressentInnen immer wieder zu Rückschlägen. Die Anforderungen an eine Tagespflegeperson von Seiten des Amtes waren vielfältig und es passte einfach nie wirklich zusammen zwischen KandidatIn und Jugendamt. So zerschlug sich auch hier kurz vor Schuljahresbeginn jegliche Hoffnung auf eine praktische Lösung.

Schließlich feierten wir mit einem lachenden und einem weinenden Auge die Einschulung. Es gab keine Betreuung für Daniel ab 11.20 Uhr.

Die ersten zehn Wochen nach der Einschulung waren wir mit dem Problem auf uns allein gestellt. Die völlige Ungewissheit belastete uns. Wenigstens nahm unsere Öffentlichkeitsarbeit weiter Fahrt auf: Es gab Interviews und Berichte über unseren „Fall“ im Fernsehen. Zunächst mussten wir beobachten, dass sich die Verantwortlichen auf Gemeinde-, Kreis-, Landes- und Bundesebene weiterhin immer wieder den Schwarzen Peter zuschoben. Der Bund wäre eigentlich verpflichtet, die UN-Konvention umzusetzen und gesetzlich zu verankern, Land und Landkreis stritten sich um die Finanzierung und Zuständigkeit und verwiesen ihrerseits letztlich auf ausstehende gesetzliche Neuregelungen auf Bundesebene (SGB XII, Eingliederungshilfe).

Doch dann – endlich! Das Jugendamt hatte bei seiner Ausschau nach einer aus seiner Sicht geeigneten Person ein glückliches Händchen! Daniel bekam nun eine Tagesmutter, mit der er zusammen im Hort Gastrecht genoss.

Wir staunten, wie positiv sich jetzt alles entwickelte:

In seiner Klasse war Daniel von Anfang an akzeptiert. Die Kinder mögen Daniel; das ist wirklich ein Geschenk! Sie können mit ihm etwas anfangen und sie helfen ihm. Sie vermitteln ihm sehr konkret, dass sie ihn bei einem Spiel mal nicht dabei haben wollen, aber sie kommen auch von sich aus auf ihn zu, um sich mit ihm zu beschäftigen, weil es Spiele gibt, die man gut mit Daniel spielen kann.

Es gab von Anfang an auch Kinder der höheren Klassen, die auf Daniel freundschaftlich zugingen. Zum Glück hat Daniel einen großen Bruder, Florian, dessen Freunde Daniel schon vor der Einschulung kannten und die schon erfahren darin waren, welche Spiele mit Daniel möglich oder witzig sind und wobei Daniel eher stört. Auch sie zeigen ihm ganz selbstverständlich, wo die Grenzen sind, bislang ohne Hänselei oder Überheblichkeit.

Wir haben nicht die Erfahrung gemacht: „Kinder können grausam sein.“, wovor uns Inklusionsskeptiker immer wieder gewarnt hatten. Daniel darf sich so geben, wie er ist. Er wird weder gehänselt noch bemitleidet. Er gehört dazu, so wie die anderen Kinder auch. Bis heute hat uns noch kein Kind und auch noch keine Eltern oder Personal der Schule damit konfrontiert, dass Daniel stören würde.

Wir wissen, dass es für alle ganz bestimmt nicht immer leicht ist. Daniel ist manchmal sehr eigenwillig, er hat in allem sein eigenes Temperament und lernt natürlich viel langsamer als die anderen.

Welche Rahmenbedingungen bietet die Schule und der Unterricht, dass das inklusive Konzept bislang derart gut gelingt?

Während des Unterrichts ist immer eine zweite Person zugegen, entweder die Integrationspädagogin oder die Assistentin. Daran wurde bislang auch nicht gerüttelt, wenn Vertretungsreserven benötigt wurden.

Zudem ist die Klassenstärke sehr viel geringer als in anderen Klassen. So profitieren auch die anderen Kinder von Daniels Anwesenheit.

Die Kinder spüren, wie gerne er seine Klassenkameraden und -kameradinnen hat und dass er sich immer riesig freut, sie zu sehen.

Und allen Befürchtungen im Vorfeld und (inklusions-)widrigen Umständen zum Trotz entwickelte sich auch die Nachmittagsbetreuung zu einem guten Miteinander von Daniel, der Tagesmutter und dem Hort.

Auch die Presse verfolgte nun die positive Entwicklung unseres „Falles“, stellte aber weiterhin kritische Fragen an PolitikerInnen (so wie wir auch). Zuletzt warben wir noch einmal am Welt-Down-Syndrom-Tag 2014 mit einer Plakataktion für unsere Sache: „Inklusion gefällt mir- auch im Hort!“

Und endlich tat sich dann auch etwas auf politischer Ebene. Es deutete sich Ende 2013 an und wurde im März 2014 zur Gewissheit: das Land Brandenburg übernimmt einen Großteil der Kosten, die durch Assistenz für Kinder mit Förderbedarf nach Schulschluss entstehen. Jetzt war der Weg frei für eine Assistenz am Nachmittag für Daniel. Damit rückte der Hortplatz in greifbare Nähe.

Im Oktober 2014 kam dann die gute Nachricht der Gemeinde, und zwar „Ironie des Schicksals“ zeitgleich mit der Ladung zur Gerichtsverhandlung vom Sozialgericht aufgrund der Verweigerung des Hortplatzes:

                                                     Der Hortvertrag!

Daniel ist seit 01.11.2014 nicht nur ein richtiges Schulkind, sondern ein Schulkind mit ECHTEM Hortplatz und einer Assistenz am Nachmittag für fünf Stunden täglich.

Allen, die daran mitgewirkt haben, dass Kinder mit besonderem Bedarf auch in Brandenburg einen Rechtsanspruch auf einen Hortplatz haben und dass dieser Anspruch auch praktisch und finanziell umgesetzt werden kann, möchten wir hiermit Dank sagen!

Es ist eine Erfolgsstory, ein wundervolles Geschenk und gleichzeitig das normalste von der Welt: Daniel darf mit seinen Freunden lernen und spielen. Seine Freunde dürfen mit Daniel lernen und spielen.

Und: Es profitieren alle!

Für uns und unseren Sohn war die Entscheidung für die Schule am Wohnort die richtige Entscheidung.

Es gibt einen Beweis, den ich Ihnen/Euch nicht vorenthalten möchte: Daniel kommt jedes Wochenende am Samstag früh (sehr früh!) freudig ins Elternschlafzimmer gerannt und ruft fragend: „Schule? Schule?“ Traurig kuschelt er sich zu seinen Eltern und muss vor dem dann obligatorischen Balgen und Spielen erst mal ausgiebig getröstet werden: „Nein Daniel, heute ist keine Schule, morgen auch nicht, aber übermorgen, übermorgen darfst du wieder in die Schule.“

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