Heute, im März 2007:
Leon, unser Sonntagskind, ist gerade 5 Jahre alt geworden. Er ist ein liebenswerter, kecker, neugieriger, aufgeweckter, flinker kleiner Kerl, der viel mehr versteht als er in Worten ausdrücken kann – er spricht nun seine Zwei- bis Dreiwortsätze wie „Papa Arbeit tschüß“, „Brei haben“ oder „unten geh’n“.
Niedlich, der Kleine – aber manchmal auch ziemlich dickköpfig. „Nein“ gehört zu seinen meistgebrauchten Ausdrücken. Aber man kann ihn auch motivieren mit Dingen, die er gerne macht – etwa es seinem Vater gleichzutun, mit ihm Kindergarten-Computerspiele zu spielen, mit ihm per Fahrrad zum Streichelzoo am „Haus Schönow“ zu fahren, und und und. Sprachlich ist er hinter den gleichaltrigen Mädchen mit Down-Syndrom ein wenig zurück – wie es Jungen ja meistens sind -, bewegungsmäßig ist er ziemlich fit, eigentlich wie ein „normales“ Kind.
Mit ihm in den Urlaub zu fahren war nie ein Problem – Leon ist ein guter Autofahrer.
Leon ist ein Kind, das recht unbefangen auf andere Menschen zugeht – was uns manchmal ein wenig unangenehm war, auch wenn es die Anderen offenbar nicht störte. Leon hat ja einigen Charme. Uns fiel auf, dass andere, „nichtbehinderte“ Kinder zwischen 2 und 4 Jahren sehr viel zurückhaltener gegenüber Fremden sind – Leon ist da unbefangen und durchaus arglos.
Es ist für alle Kinder wichtig, die eigenen Grenzen zu erfahren, aber auch die Grenzen der Anderen. Ich besprach dieses Problem mit Leons Pädagogin und seinem Gruppenerzieher und wir alle sorgten dafür das Leon anderen Menschen zwar die Hand geben durfte (Berührung schien ihm wichtig zu sein, was ich verstand), aber wir griffen beherzt und schnell ein, wenn er Leute umarmen wollte. Nach einiger Zeit begriff und akzeptierte er dieses Verhalten und gibt heute den Freunden und Gästen, die zu uns kommem, die Hand, was mich erstens erleichtert und beruhigt und zweitens auch stolz sein läßt auf meinen höflichen Sohn. Es war ein gutes Gefühl zu erleben, dass „Erziehung“ auch bei Leon funktioniert.
Als Leon klein war, sagten wir uns öfters: Wir würden ihn um keinen Preis gegen ein anderes Kind tauschen, nur noch gegen einen Leon ohne Down-Syndrom. Inzwischen kommt uns auch dieser Satz nicht mehr über die Lippen. Wir lieben Leon so, wie er ist, und wir lieben ihn sehr, nicht weniger als seine beiden Schwestern.
Als Leon noch ein Baby war,
hatte ich einmal einen sehr intensiven Traum :
Zu uns auf die Erde waren Außerirdische gekommen und boten mir an Leon zu „reparieren“. Ich war sehr glücklich darüber und freute mich auf den Jungen ohne Down-Syndrom, den ich dann kennenlernen würde. Nachts kamen die Außerirdischen und wollten Leon abholen. Plötzlich bekam ich große Angst und hielt Leon ganz fest. Ich hatte das große Bedürfnis, ihn zu beschützen vor dieser Reparatur, und ich hatte Angst vor diesem anderen Kind das mir fremd war, das ich doch gar nicht kannte. Ich versteckte Leon so, dass die Außerirdischen ihn nicht finden konnten und war unendlich erleichtert, als sie wieder weg waren.
Ich hatte einmal eine Babymassage-Fortbildung gemacht und massierte Leon jeden Tag, als er noch klein war. Leon schien den innigen Hautkontakt zu geniessen. Es waren Momente, die uns beide verband und bei denen Leon sich wohlfühlte. Mich machten sie glücklich. Nach der Babymassage hat Leon immer sehr gut geschlafen. Ich konnte mir dann Zeit für die großen Schwestern nehmen und ihnen ungestört eine Geschichte vorlesen.
Wenn Leon wach war, legte ich ihn oft aufs Bett und sang ihm kleine Lieder vor oder einfach nur einzelne Töne, was Leon sehr gerne hatte. Ich merkte, wie interessiert und aufmerksam er bei der Sache war.
Leon liebt Musik.
Er spielt sehr gerne auf seiner kleinen Kindergitarre oder klimpert auf dem Klavier. Er singt seinen ganz eigenen Gesang, manchmal nach Liedern, die er von uns gehört hat. Er macht sich besonders gerne an unserer CD-Sammlung zu schaffen und bedient selbst die Musikanlage – nicht immer zu unserer uneingeschränkten Freude! Aber wir sind durchaus stolz auf seine Musikalität.
Leon kam mit zweieinhalb Jahren in einen integrativen Kindergarten, wo er sehr liebevoll angenommen wurde und gerne hingegangen ist. Einen ganz besonderen Dank möchte ich Leons damaliger Sonderpädagogin widmen, die schon am zweiten Tag seiner Eingewöhnung zu mir sagte: „Leon ist so ein wundervolles Kind, wenn es ihn nicht gäbe, müsste man ihn erfinden“. Noch heute fühle ich mich, wenn ich an ihre Worte denke, unbeschreiblich glücklich.
Bevor er mit 4 Jahren angefangen hat, Wörter und Bezeichnungen gezielt einzusetzen, haben wir mit ihm nach dem System der „Gebärdenunterstützten Kommunikation (GuK)“, einer Art Gestensprache, geübt. Dies war für ihn bei seinem schon deutlich weiter entwickeltem geistigen Verständnis sicher eine Hilfestellung, heraus aus der Isolation des Sich-nicht-Mitteilen-Könnens.
Auf Grund interner Veränderungen in seinem Kindergarten mussten wir für Leon 2005 eine neue Tagesbetreuung suchen. Wir entschieden uns für den Montessori-Kindergarten am Rohrgarten in Zehlendorf, wo Leon in seiner Gruppe das einzige Kind mit einer Behinderung ist.
Dort ist Leon jetzt seid eineinhalb Jahren. Er hat sich in der Zeit gut entwickelt, und die für ihn zuständige Sonderpädagogin und der Erzieher sind freundlich, aufgeschlossen und kompetent. Sie haben auch für unsere Sorgen immer ein offenes Ohr, und es gab schon gute Gespräche im Laufe der Zeit. Im Großen und Ganzen sind wir sehr zufrieden mit diesem Kindergarten, wohl wissend allerdings, dass die wirklich großen Herausforderungen der Integration wohl erst mit der Einschulung kommen werden.
Unsere Erfahrungen mit den anderen Gruppeneltern
… sind nicht schlecht, aber wir machen auch immer wieder die Erfahrung, dass die meisten Eltern nichtbehinderter Kinder eine gewisse Unsicherheit im Hinblick auf Leon haben. Leon ist ja ein hübscher und freundlicher kleiner Junge, der gerne und problemlos mit anderen Kindern spielt, wie er es ja auch von seinem Geschwistern nicht anders kennt. Aber er wird nur sehr selten von anderen Kindern eingeladen, und auch wir haben die schmerzliche Erfahrung gemacht, dass Eltern „normaler“ Kinder da mitunter ausweichend reagieren – vielleicht mehr aus Unsicherheit als aus wirklicher Ablehnung. Aber so ist es nun einmal. Bei uns wäre das vor Leons Geburt vielleicht auch nicht anders gewesen. Unverhohlene Diskriminierung oder Ablehnung Leons wegen seiner Behinderung haben wir aber noch nicht erlebt, auch wenn wir wissen, dass das immer noch vorkommt.
Es ist eine für uns schmerzliche Vorstellung, dass der Tag für Leon ja kommen wird, an dem er erstmals sein Anderssein, seine „Behinderung“ realisiert, und dass der Tag kommen wird, an dem er Ablehnung und vielleicht Spott und Misshandlung deswegen erleben muss. Man möchte sein Kind gerne lebenslang davor schützen, aber diese Absicht ist ja unrealistisch. Ich kann mich erinnern, bei einem Urlaub in Italien einmal viele zwergenähnliche Skulpturen auf einer hohen Gartenmauer stehen gesehen zu haben. Die Geschichte, die man sich dazu erzählte – ob sie wahr ist, weiß ich nicht – war die folgende: Ein Vater hatte einen Sohn, der als ‚Lilliputaner‘ auf die Welt gekommen ist. Der Vater wollte seinem Sohn den Schmerz ersparen, zu erleben, dass die Welt in ihm eine Art Zirkusattraktion sehen und ihn verspotten würde. Und so stellte er nur Diener an, die selbst ‚Liliputaner‘ waren. Auf allen Bildern im Haus wurden nur Menschen dargestellt, die selbst zwergenhaft waren, und auch die Skulpturen auf der Gartenmauer stellten nur Menschen dar, die aussahen wie ‚Lilliputaner‘.-
Mit unserer Familiengruppe möchten wir vielleicht selbst ein bisschen an so einer Mauer werkeln. Es ist für uns auch wichtig, dass Leon von frühester Zeit an Verbindungen zu anderen Kindern mit Down-Syndrom knüpft. Denn ‚Behinderung‘ ist doch eine Eigenschaft, die in erster Linie im Verhältnis zu einer mehrheitlich andersgearteten Umwelt wahrgenommen wird. Schön wäre es, wenn es zwischen uns als seiner Familie und der „harten Welt da draußen“ noch andere kleine ‚Gärten‘ und Welten gibt, in denen er als der Mensch wahrgenommen wird und leben kann, der er ist – und nicht sein Down-Syndrom die Eigenschaft ist, die als erste und hauptsächliche wahrgenommen wird.